Die Twitter-Nachricht der Schülerin Naina, sie sei fast 18 Jahre und habe keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen, aber sie könne eine Gedichtsanalyse in vier Sprachen schreiben, hat eine Riesendebatte um die Bildung im Deutschland losgetreten. Gabor Steingart, Herausgeber des Handelsblatts, erwidert unter der Überschrift „Was bedeutet Leben?“, sie könne froh sein, dass ihre Lehrer ihr die Steueroptimierer und Versicherungsvertreter vom Leib halten. Dichtung habe wahrscheinlich mehr zu bieten und bereichere durch Klang und Klugheit, ohne dass sie dafür Steuern zahlen müsse. In den Gedankengebäuden der Dichter lasse sich sogar mietfrei wohnen. Und Leben sei nur ein anderes Wort für unfertig sein. So gesehen, sei sie mittendrin im Leben.
Die von Naina ausgelöste Diskussion spiegelt die ganze Bildungsdebatte wieder, die sich als ein Streit um Inhalte begreift, in denen die Schüler bzw. Studenten als Personen nicht vorkommen. Es wird um unpersönliches Wissen gestritten, das der Lehrplan der Schule bzw. das Curriculum der Hochschulen beinhalten soll. Und die stetige Zunahme der Wissensbestände gerät angesichts verkürzter Schul- und Studienzeiten in wachsende Konkurrenz, ebenso wie die diese Wissensbestände vertretenden Lehrer. Jeder will das Vorkommen seines Faches sichern. Dabei wird auch um die Auswahlkriterien gerungen: je nach fachlicher Ausrichtung gilt eine unspezifische „Allgemeinbildung“, wie bei Dichtkunst oder Latein, oder eine vermeintliche „Nützlichkeit“ wie z.B. bei der Forderung nach der Einführung des Faches Wirtschaft in der Schule als Kriterium. Dieser Streit ist unlösbar. Schafft man das Analysieren von Gedichten ab und führt man das Wissen um Steuern, Mieten und Versicherungen ein, werden die Klagen nicht abnehmen – auch nicht die der Schüler.
Den streitenden Parteien ist gemein, dass in ihrem Bildungsverständnis die Schüler und Studierenden nicht als Personen sondern nur als Objekte vorkommen, die vorbestimmte Inhalte aufzunehmen und zu speichern haben. Liest man jedoch die Aussage von Naina nicht in Bezug auf die Frage, welche von ihr abstrahierten Inhalte wissenswert sind, sondern als persönliche Aussage, die sie existenziell betrifft, heißt sie: „Ich will ein erwachsener Mensch sein.“ Die Antwort von Steingart auf diese Frage wiederum lautet: „Sei froh, dass die Lehrer Dich als Kind vor dem Erwachsensein schützen! Die unbeschwerte Kindheit ist die bereicherndste Zeit!“ Diese Antwort ist paternalistisch und entmündigt die, um deren Entwicklung zur Mündigkeit es geht. Sie behindert die Bildung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung.
Das Problem unseres Bildungssystems ist, dass im Streit um die Bestimmung von unpersönlichen Inhalten die subjektive Bildung, die persönliche Bezugnahme auf die, um die es geht, und die Auseinandersetzung mit ihrer menschlichen Entwicklung, verloren gegangen ist. Wir sind, wie Bastian Balthasar Bux in der unendlichen Geschichte von Michael Ende, im Reich der vom Leben abgelösten, fantastischen Gedanken angekommen, in dem die Erinnerung an das Menschsein verloren geht. Bastian Balthasar Bux kommt schließlich in das Änderhaus der Dame Aiuóla, die ihm seine eigene Geschichte erzählt, und in dem er anfängt, auf seine persönlichen Erfahrungen und sich selbst Bezug zu nehmen. Abstraktes Wissen zu lernen ist die notwendige, Reflexion und Selbst-Bezugnahme sind die hinreichenden Bedingungen menschlicher Bildung. Wir brauchen mehr Änderhäuser in Deutschland!