Warum ist es sinnvoll, das Rad neu zu erfinden?

Man muss das Rad nicht neu erfinden, sagt der Volksmund. Im Handout des Unternehmer-Studiums zum Thema „Idee“ wird das Gegenteil behauptet: „Für Unternehmer ist es sinnvoll, das Rad neu zu erfinden.“ Was bedeutet diese These und stimmt sie?

Wenn man sich die Frage stellt, was ein Rad ist (also nicht wie man es benutzt sondern was es ist), wird deutlich, dass die Frage gar nicht einfach zu beantworten ist. Wir kennen vielfältige, unterschiedliche Formen des Rades und wissen, dass und wie man sie gebraucht, um zu fahren. Aber die Frage, was ein Rad ist, fragt nach der Idee des Rades. Die Frage nach der Idee des Rades mutet zu, diese Idee zu denken. Jeder weiß, dass ein Unternehmer eine Idee braucht, z.B. eine Unternehmensidee oder eine Produktidee, aber was bedeutet es genau, eine solche Idee zu denken? Die These, dass es sinnvoll ist, das Rad neu zu erfinden, führt zu der Frage nach der Idee, und sie lässt sich nur verstehen, wenn man sich Klarheit darüber verschafft, was eine Idee ist. Diese letztere Frage ist für Unternehmer existenziell und es ist für ihn produktiv, sich z.B. zu fragen, was genau die Idee seines Unternehmens oder seines Produkts ist.

Idee und Form

Klassischerweise wird zwischen der Idee des Rades und der Form des Rades unterschieden. Die Idee des Rades ist geistiger Natur, man könnte auch sagen göttlichen Ursprungs. Sie ist nur denkerisch und nicht mit den Sinnen, also z.B. nicht mit den Augen zu erfassen. Ideen sind in diesem Sinne Gedanken, die gedacht werden wollen. Auf die Welt kommt die Idee aber erst und nur dann, wenn man sie in eine irdische Form bringt. Das Denken allein reicht nicht hin. Auf dieser Welt wird Geistiges erst Wirklichkeit, wenn wir es in einer weltlichen Form realisieren, z.B. indem es ausgesprochen, aufgeschrieben oder als ein Gegenstand materialisiert wird. Als Menschen können wir die Ideen, die als gottgegebene Gedanken vollkommen sind, allerdings immer nur unvollständig oder unvollkommen verwirklichen. Das Denken der Idee ermöglicht uns jedoch, sie immer wieder in eine neue, angemessenere Form zu bringen. Z.B. können wir den Gedanken neu formulieren, wenn wir im Gespräch feststellen, dass der Andere ihn anders versteht als man selbst ihn gedacht hat. Im Denken können wir also eine Idee teilen, allerdings nur, wenn den Gedanken jeder selber denkt. Und wenn einer den des Rades denken kann, ist es ihm auch möglich, ihn in eine konkrete Form zu bringen und ein neues Rad zu erfinden.

Form gleich Idee

Anders als in der Klassik sind für uns in der Moderne Idee und Form identisch. Dies ist die Konsequenz von Nietzsches Ausspruch „Gott ist tot“, der die moderne Zeit in ihrem Wesen beschreibt. Mit diesem Gott haben wir Menschen die göttliche Idee mitabgeschafft und an ihre Stelle die weltliche Form gesetzt, die wir Menschen je selbst hervorbringen. Indem wir die Idee mitabgeschafft haben, haben wir das Denken der Ideen aufgegeben. Wir haben keinen die weltliche Form übersteigenden Bezug mehr auf die Frage, was etwas ist, sondern können nur mehr an den bestehenden Formen anknüpfen. Wir halten heute die Form des Rades für seine Idee und bringen uns damit in die Schwierigkeit, das Rad nicht mehr neu erfinden zu können bzw. dieses für unnötig zu halten. Wir können das Rad nicht neu erfinden sondern es nur re-form-ieren, d.h. kleine Änderungen und Verbesserungen bzw. Optimierungen an dem Rad vornehmen, seine Form rationalisieren. Dies hat die Konsequenz, dass die Formen immer ideenloser werden. Leere Formen, solche ohne Idee, werden immer mehr zum Normalfall. Was ist z.B. die Idee der EU, von Deutschland, unserer Außenpolitik mit Russland, der Demokratie, der Schule oder eines bestimmten Unternehmens? Ohne den Bezug auf die Idee wird es am Ende zu einer Frage der Moral oder der Macht, die über die Reformierung der immer inhaltsleerer werdenden Form entscheiden. Die Moralisierung der Dinge und ihre Vermachtung nehmen in unserer Gesellschaft und in vielen Unternehmen immer mehr zu, weil die Ideen der bestehenden Formen nicht mehr gedacht und nicht mehr geteilt werden. Sowohl Moralisierung als auch Vermachtung bedeuten aber am Ende Krieg und einen unmenschlichen Umgang. Macht führt immer in den Machtkampf. Und moralische Entscheidungen setzen voraus zu wissen, was gut und böse ist. In christlicher Tradition ist es das Angebot der Schlange, die den Menschen im Paradies verhieß: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Da die Schlange für den Teufel steht, ist es quasi ein teuflisches Angebot, sich als Mensch für Gott bzw. allwissend zu halten.

Die Idee der Form entbergen

In der Moderne eröffnet sich die Möglichkeit, wenn man die Idee, die sich hinter den Formen verbirgt, „entbirgt“ und neu denkt. Die Ideen erhalten sich nicht, wenn sie nicht gedacht werden, auch eine Unternehmensidee nicht. Das Denken ist die wesentliche Tätigkeit des Unternehmers. Das Denken der Idee trägt den Unternehmer in die Zukunft, es ermöglicht ihm, immer wieder eine neue Form zu bilden. Es gibt ihm Sicherheit und Führung, die ihn selbst zur Führung befähigen.

Wir haben z.B. die Idee der Form „Universität“ neu gedacht. An der Universität geht es nach Humboldt darum, objektive Wissenschaft und subjektive Bildung zu betreiben. Moderne Universitäten fokussieren sich auf die Erforschung objektiven Wissens, die Bildung von Subjekten kommt nur als Anhängsel in dem Sinne vor, dass die Studierenden das erforschte Wissen zu reproduzieren haben. Die Idee unseres Unternehmer-Studiums ist die „subjektive Bildung“ von Unternehmern, d.h. die Bildung des Subjekts, das zum Schöpfer des Unternehmens wird, das ihn zum Unternehmer macht. In diesem die unternehmerische Tätigkeit begleitenden Angebot geht es im Wesentlichen darum, selbst ins Denken zu kommen, ins Denken der Idee, die der eigenen Person gemäß ist und diese in eine den eigenen Möglichkeiten entsprechende Form zu bringen. Dies bedeutet z.B. für Nachfolger oder neue Geschäftsführer durchaus, das Rad neu zu erfinden.

Ralf Neise
Juli 2022